Begeistert für Düsseldorf
Warum brauchte es 1989 einen Zusammenschluss wie die…
Als neue Leiterin im Tanzhaus NRW hat sich Ingrida Gerbutavičiūtė viel vorgenommen. Auch die Zusammenarbeit mit Düsseldorfer Kulturinstitutionen will die gebürtige Litauerin verstärken.
Internationale Expertise, ein großes Netzwerk und Leidenschaft hat die gebürtige Litauerin Ingrida Gerbutavičiūtė im Gepäck für ihre Aufgabe als neue Leiterin des Tanzhauses NRW.
Als neue Leiterin im Tanzhaus NRW hat sich Ingrida Gerbutavičiūtė viel vorgenommen. Auch die Zusammenarbeit mit Düsseldorfer Kulturinstitutionen will die gebürtige Litauerin verstärken.
Mit Vorfreude und mit einem guten Gefühl hat Ingrida Gerbutavičiūtė ihren Platz in Düsseldorf eingenommen. Seit dem 1. Juli ist sie Intendantin im Tanzhaus NRW. „Anfangs dachte ich manchmal: Bin ich das wirklich, die hier sitzt?“, sagt sie. Die Monate davor waren bewegt. Als die Entscheidung für sie als Nachfolgerin von Bettina Masuch fiel, hatte die gebürtige Litauerin als Chefdramaturgin beim Tanzkongress 2022 in Mainz noch ein gewaltiges Pensum zu stemmen. „Eine schöne Veranstaltung“, resümiert sie. „Wir hatten 950 Fachbesucher*innen aus über 70 Ländern, darunter viele Tänzer*innen und Choreograf*innen. Mir war es wichtig, die Kulturschaffenden einzubinden.“ In den Jahren davor sei der Tanzkongress stark wissenschaftlich geprägt gewesen. Diesmal habe man sich auf historische Vorbilder besonnen, bei denen sich die gesamte Szene traf.
Parallel zur Kuratierung des Kongresses, ein Leuchtturmprojekt der Tanzwelt, kamen erste Aufgaben in Düsseldorf auf Ingrida Gerbutavičiūtė zu. „Ich war oft im Haus, um Prozesse und Mitarbeiter*innen kennenzulernen und die neue Spielzeit zu planen. Diese Überlappung kostete Energie, machte aber auch viel Spaß.“
Jetzt konzentriert sie sich, abgesehen von ihren Pflichten bei Verbänden oder in Jurys, ganz und gar aufs Tanzhaus NRW. Sie schätzt dessen einzigartige Verquickung von Bühne und Akademie. „Diese beiden Säulen sind das Fundament unseres Hauses“, erklärt sie. „Die bedeutende Akademie ist aus der Stadtgesellschaft nicht wegzudenken. Das Renommee unserer Bühne als berühmtestes Zentrum für Tanz in Deutschland und sogar weltweit ist unumstritten.“ Frage man Tänzer und Tänzerinnen, wo sie denn gern auftreten würden, wäre die Antwort ganz bestimmt: im Tanzhaus NRW. „Darauf würde ich wetten, und das ist wunderbar.“
Die Vielfalt des Angebots sei Stärke und Schatz der Einrichtung. Mit Kursen für Hip-Hop, Salsa, Tango, Ballet60plus, Jungem Tanz und mehr sind alle Altersgruppen eingebunden. „Jeder kann seinen persönlichen Stil finden und damit sein Wohlgefühl verbessern“, sagt Ingrida Gerbutavičiūtė.
Eine Erfahrung, die sie schon während ihrer Kindheit in Litauen machen durfte. Sie und ihr Bruder wuchsen in Vilnius auf, jeden zweiten Sonntag besuchten sie mit ihren Eltern eine Oper oder ein Ballett. „Vom Ballett war ich sofort fasziniert, für mich gab es nichts anderes“, erzählt sie. „Und natürlich wollte ich das lernen.“
Sie beharrte auf ihrem Wunsch, die Mutter gab schließlich nach. Das Mädchen durfte zum Ballett und blieb 13 Jahre dabei. Keine Lust, einen Beruf daraus zu machen? „Trotz aller Leidenschaft befürchtete ich, damit eines Tages nicht mein Brot verdienen zu können“, antwortet Ingrida Gerbutavičiūtė. Stattdessen studierte sie Theaterwissenschaft, Linguistik und Publizistik. Sie hatte Deutsch gelernt, also war es schlüssig, nach dem Bachelor in deutscher Philologie an der Universität Vilnius nach Berlin zu ziehen und an der Freien Universität ihren Magister-Abschluss zu machen. Danach schob sie in ihrer Heimat viele Projekte am Lithuanian Dance Information Center an. Sie konzipierte die Veranstaltungen „Lithuanian Dance Showcase“ und „Baltic Dance Platform“, kuratierte Ausstellungen, schrieb Kritiken, leitete den Lehrstuhl für Tanz an der Litauischen Akademie für Musik und Theater in Vilnius. „Die Szene ist klein, jeder kennt jeden, und ich kannte alle“, sagt sie im Rückblick. Denkt sie heute an Litauen und an ihre Eltern, macht sie sich Sorgen, denn hier ist der Krieg durch die Grenze zu Kaliningrad erschreckend nah. „Als er ausbrach, wurde die Bevölkerung dazu angehalten, Dokumente, Wasser und Nahrung immer bei sich haben“, erzählt sie.
In ihre neue Position bringt sie ihre Erfahrungen und ein über Jahre geknüpftes Netzwerk ein. Hat Ingrida Gerbutavičiūtė eine Vision, wie sie eigene Akzente setzen will? Sie lacht. „Oh ja, die habe ich. Aber es wäre nicht gut, sie gleich zu verraten.“ Mitte September beginnt die Saison 22/23 unter dem Motto „May I hug you?“ (Darf ich dich umarmen?). Die Frage dabei sei, was die Pandemie mit uns Menschen gemacht habe, während der man doch zögerte, ob man jemandem die Hand geben oder einen Bogen um ihn machen sollte: „Wie stehen diese Körperlichkeiten zueinander, die eigenen und die gemeinschaftlichen? Was passiert, wenn sie sich auf der Bühne aufteilen?“ Gemeinsame Projekte mit FFT, Schauspielhaus und Tonhalle sollen gestärkt, das mit der Oper begonnene Format „Step by Step“ fortgesetzt werden.
Die Intendantin wohnt mit ihrem Mann in Flingern, geht der Bewegung wegen gern in knapp 40 Minuten zu Fuß nach Hause. An ihrer Wirkungsstätte gibt es tolle verspiegelte Räume. Eine Verlockung für die ehemalige Tänzerin? „Und wie“, gibt sie zu. „Ich hoffe, ich finde mal eine freie Stunde dafür.“ Bei den Fotos fürs „Top Magazin“ scheint sie sich dort wohlzufühlen, nimmt geduldig ihre Positionen ein. Dabei kommt man nicht umhin, ihre ausgefallene Frisur anzusprechen: oben auf dem Kopf ein Knoten, darunter abrasiert. „Das macht mein Mann“, verrät sie lächelnd. Er war es auch, der sie mit der Liebe zum Motorradfahren ansteckte. Reisen mit Sack und Pack, die ihr unvergessen sind: 8.000 Kilometer über den Balkan, 12.000 Kilometer quer durch die USA, dann nach Island, zum Nordkap und auf die Kanarischen Inseln. „Man ist der Natur so herrlich nah und spürt sie ganz anders als im Auto“, schwärmt sie. „Auf dem Motorrad kann ich sogar riechen, ob sich Regen ankündigt.“
Regina Goldlücke