Das kreative Rückgrat der Stadt
Düsseldorf ist eine Kunststadt. Das sieht man allerdings…
Nicht erst seit der Pandemie stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Ein Unternehmen, das sich schon lange von den althergebrachten hierarchischen Strukturen verabschiedet hat, ist der Software-Entwickler Invision im Medienhafen.
You are entering a world of pain“ steht in roter Leuchtschrift am Eingang der sechsten Etage des „Maki Solitaire“ im Medienhafen – wer möchte wohl an einem Ort arbeiten, an dem einem Schmerzen drohen? Offenbar so einige Menschen, denn der Software-Entwickler Invision beschäftigt an seinem Düsseldorfer Hauptsitz 75 Mitarbeiter, insgesamt sind es – auch auf die Standorte in Leipzig, Chicago, Utrecht, Paris und Großbritannien verteilt – 150. Doch genauso irritierend geht es weiter: An den Wänden der mit überbordend opulenter Pflanzenpracht geschmückten Meeting-Etage finden sich zwei Aufforderungen: „fail“ und „disobey“. Also nicht nur leiden, sondern auch noch Fehler machen und ungehorsam sein? Und wie passt zu alledem die stylishe Bar, die sich ebenfalls hier befindet? Ein Blick zurück: Die heute bei der Invision AG gelebte Arbeitskultur – zuletzt wurde die Firma Anfang des Jahres erneut als „Great Place to Work“ ausgezeichnet – rührt von einem Fehler her. 2011 stellte CEO und Gründer Peter Bollenbeck fest, dass die alten hierarchischen Strukturen dazu geführt hatten, dass ganze Abteilungen seines auf Workforce-Management-Lösungen spezialisierten und seit seiner Gründung stark gewachsenen Unternehmens nicht miteinander kommunizierten – ja, geradezu eine Gegnerschaft der verschiedenen Teams untereinander entstanden war. Fatal: Denn auf schnelle Kommunikation kommt es in der Softwarebranche nun mal an. Wer nicht schnell genug ist, scheitert. „Hierarchien sind immer starr, wir aber brauchen schlanke Prozesse wie im Toyota Management System, bei denen alles weggelassen wird, das dem Kunden nicht zuträglich ist, und jeder alles gibt, um ihn zufrieden zu machen“, sagt Peter Bollenbeck.
Ein Umdenken war also unumgänglich. Der Paradigmenwechsel lautete: Verzicht auf klassische Hierarchien, hin zu Eigenverantwortung und – insbesondere – Förderung der Mitarbeiter. „Wir haben unsere neue Unternehmenskultur zunächst in unserer Software-Abteilung eingeführt und sie allmählich auf alle Bereiche ausgedehnt“, sagt Bollenbeck, der sich bereits mit 15 Jahren selbstständig gemacht hatte. „Es waren die 80er-Jahre, Software-Themen kamen auf, durchzogen die Geschäftswelt“, sagt der 48-Jährige. „Die ersten Mitarbeiter habe ich 1992 eingestellt, bevor Armand Zohari, Matthias Schroer und ich 1995 die Invision Software GmbH gründeten.“ Nebenher studierte Peter Bollenbeck noch ein paar Semester Wirtschaftswissenschaften, „weil man das so macht“. Doch merkte er rasch, dass ihn das nicht wesentlich weiterbrachte. „Was ich wissen muss, lese ich mir an“, betont er. „Und wenn wir hier etwas wissen müssen, dann lernen wir es – Outsourcing kommt in unserem Haus so gut wie gar nicht vor.“ Das Haus hat übrigens acht Geschosse – im Erdgeschoss, im Digital Garden, gibt
es Events, Meetings, Fortbildungen. Auf den Etagen zwei bis fünf wird gearbeitet, ob am Tisch im Team, auf einem Sessel, einem Sofa oder einer anderen Sitzgelegenheit oder in einem der intimeren, individuell eingerichteten Meeting-Räume. Und wer Ruhe braucht, findet sie in Arbeitskabinen oder zum Ausruhen auf Etage sieben, der Bibliothek mit einem großartigen Ausblick auf Medienhafen und Stadt, in Schlafkojen. Im ersten Stock sorgen zwei festangestellte Köche dafür, dass die Mitarbeiter hochwertiges, gesundes Frühstück und Mittagessen bekommen, reizvoll angerichtet und individuellen Ernährungsgewohnheiten entsprechend und wie die Getränke kostenlos. Denn: „Der Mensch, sei es der Mitarbeiter oder der Kunde, steht bei uns im Mittelpunkt“, sagt Peter Bollenbeck. Dazu passen auch Jobticket, umfangreiche betriebliche Altersversorgung, die Möglichkeit, zu duschen, etwa, wenn ein Mitarbeiter mit dem Fahrrad ins Büro kommt oder zwischendurch mal eine Runde joggen geht. „Außerdem sind wir gerade dabei, das Jobrad einzuführen“, sagt der Chef, der in Pulli, Jeans und Sneakers so gar nicht wie ein typischer Chef wirkt.
„Wenn wir etwas wissen müssen,
holen wir uns die Experten ins Haus.“
Peter Bollenbeck, CEO Invision AG
So viel zu den Benefits. Aber Invision geht noch ein Stück weiter. „Die Weiterentwicklung eines Unternehmens läuft nur über die Weiterentwicklung der Mitarbeiter“, sagt Bollenbeck. „Und diese ist ganz entscheidend dafür, dass Menschen bei uns arbeiten wollen. Dafür stellen wir
das Arbeitsumfeld und die -bedingungen her, die zu intrinsischer, also aus dem Bedürfnis des Menschen selbst kommender Motivation führen. Extrinsische Motivation, etwa durch Boni, gibt es bei uns nicht. Die Gehälter werden dem Markt angepasst aktiv gemanagt. Danach braucht niemand zu fragen.“
Das Arbeitsumfeld bildet der Maki Solitaire. „Als wir 2015 von Ratingen nach Düsseldorf gezogen sind, haben wir das Haus gekauft. Jedoch gab es darin nur viele kleine Bürokästen“, sagt Bollenbeck. „Arbeit macht schließlich einen großen Teil des Lebens aus, sich dabei wohlzufühlen, ist essenziell. Und: Wer in einer hochqualitativen Umgebung arbeitet, stellt auch höhere Ansprüche an seine Leistung.“ Also wurde die Architektur des Pritzker-Preisträgers Fumihiko Maki komplett in den Ursprungszustand zurückversetzt, das Innere
für rund vier Millionen Euro neu aufgebaut und erhielt seinen heutigen offenen Charakter – für eine barrierefreie Kommunikation. Denn Transparenz ist ein weiterer Faktor, der die Arbeitskultur bei Invision ausmacht: Jeder kann arbeiten, wo er will, selbst der Chef hat keinen festen Arbeitsplatz. „Alle hier dürfen weitestgehend alles wissen. So kann auch jeder an allen Chats teilnehmen, allerdings kann die Informationsfülle einen leicht überfordern“, sagt Bollenbeck. Das hat auch Nadine Schröteler erfahren. Mitten in der Pandemie stieg sie als Führungskraft ins Unternehmen ein – und hatte zunächst das Gefühl, alles wissen zu müssen. „Da muss man erst einmal seine Balance finden“, sagt die 45-Jährige, „entscheiden, was für einen selbst relevant ist.“ Und noch etwas bereitete ihr anfangs Kopfschmerzen. „In meinen früheren Jobs
hatte ich ein Budget, hier nicht. Als ich nun das erste Mal etwas zu organisieren hatte, habe ich reflexartig gefragt, ob das denn finanziell so ok sei. Und bekam zur Antwort, dass ich mir ja schließlich bereits überlegt hätte, was sinnvoll ist. Das bringt schon viel Verantwortung mit sich“, sagt sie. „Aber ich habe das vorher noch nie so erlebt und genieße es sehr, Dinge voranbringen können, ohne dass mir Grenzen gesetzt werden, und gleichzeitig Teil eines Teams zu sein.“
„Wer in einem hochqualitativen
Umfeld arbeitet, stellt auch höhere
Ansprüche an seine Leistung.“
Peter Bollenbeck
Apropos: Die Teams bei Invision sind durchlässig, arbeiten weitgehend autonom und haben Netzwerkcharakter. „Eigentlich sucht der Mensch nach Abkürzungen, die es ihm erlauben, sich in seiner Komfortzone einzurichten“, sagt Bollenbeck. Doch Bequemlichkeit behindert
Kreativität. „Um das zu vermeiden, haben wir eine ausgeprägte Fehlerkultur. Es geht darum, Fehler zu erkennen und aus ihnen zu lernen. Deshalb hinterfragen wir alle drei Monate, ob wir mit der aktuellen Struktur das erreichen können, was in den nächsten drei Monaten ansteht. Denn greift man früh genug ein, kann man mit kleineren Mitteln leicht korrigieren. Das tut zwar weh, aber weniger, als wenn große Veränderungen nötig würden.“ Diese Flexibilität, gibt er zu, liege nicht jedem, sei aber keineswegs eine Altersfrage. Im Gegenteil begeisterten sich dafür oft gerade Mitarbeiter, die lange Zeit in hierarchischen Strukturen waren. „Es gibt das gemeinsame Ziel, zu dem jeder sein Bestes beiträgt, indem er über sich hinauswächst.“ Dazu gehört auch, Ergebnisse infrage zu stellen, gewissermaßen ungehorsam zu sein und dem Konflikt nicht
aus dem Weg zu gehen, Dinge zu diskutieren. „Wer kreativ sein kann, ist produktiver“, betont Bollenbeck. Wachsen soll Invision übrigens auch selbst: 2025 sollen 500 Menschen im Unternehmen arbeiten. „Ich halte unsere Arbeitsstruktur für die der Zukunft“, sagt Peter Bollenbeck. „Einfache Tätigkeiten werden zunehmend automatisiert werden. Was dann bleibt, erfordert Kreativität. Unternehmen, die dann nicht in der Lage sind, die volle Kreativität ihrer Mitarbeiter zu nutzen, werden den Wettbewerb nicht überstehen. Ohne die Kreativität unserer Mitarbeiter wären wir nichts.“